Theoretischer Hintergrund von S.T.A.R.
Die theoretische Grundlage von S.T.A.R. bilden:
- Dieses für die Rückfallforschung einflussreichste Rückfallmodell berücksichtigt mehrere sozial-kognitive und verhaltensbezogene Elemente des Rückfallgeschehens.
- Vorzüge dieses Modells sind sein hoher Grad an Differenziertheit sowie seine empirisch gut gestützten Theorieannahmen hinsichtlich Erklärung und Verlauf von Ausrutschern und Rückfällen.
- Nach Marlatt spielen bei Entstehung und Verlauf von Rückfällen folgende Bedingungen eine bedeutsame Rolle:
In psychoanalytischen Modellen wird die psychische Disposition des Klienten (z.B. Probleme in der Selbstwertregulation, narzisstische Kränkbarkeit) in den Mittelpunkt der Betrachtung von Rückfallprozessen gerückt. Die psychoanalytischen Modelle der Sucht- und Rückfalldynamik erweisen sich heuristisch als ausgesprochen fruchtbar. Allerdings sind sie bisher keiner wissenschaftlich-empirischen Bewährung unterzogen
Im einzelnen lassen sich drei Modellansätze unterscheiden:
- (1) Ich-psychologische Theorie des Rückfalls
Nach dieser Rückfallsicht wird der erneute Alkoholkonsum als Versuch der psychischen Selbstheilung betrachtet. Denn wie Wohlfarth (1992) feststellt, bedeutet Abstinenz für viele Abhängige “nicht nur die Erlösung von den quälenden Krankheitssymptomen der Sucht, sondern auch den schmerzhaften Verzicht auf eine Substanz, die eine wichtige Rolle bei der Regulierung von Affekten, der Abwehr von Kränkungen und der Aufrechterhaltung des Selbstwertgefühls gespielt hat.”
Unter dieser Betrachtungsweise stellt Alkohol für viele Menschen eine nicht zu unterschätzende “Krücke” (“Ich-Substitut”) in der Lebensbewältigung dar. Dies gilt beispielsweise für Personen, die unter Ängsten oder Depressionen leiden oder Menschen mit häufigen Stimmungsumbrüchen, schlecht kontrollierbarer Wut (“Borderline-Störung”; vgl. Wernado, 1993). Auch werden Kritik oder andere erlebte Kränkungen aufgrund einer hohen Kränkbarkeit (“narzisstische Störungen”; vgl. Wardetzki, 2000; Wohlfarth, 1992) häufig als Bedrohung des Selbstwertgefühls erlebt. Alkohol dient dann nicht selten als “Selbstwertregulativ” um diese Kränkungen besser ertragen und bewältigen zu können. - (2) Triebpsychologische Theorie des Rückfalls
Diese Theorie geht davon aus, dass es Personen mit stark reglementierenden Überich-Strukturen erst unter der enthemmenden Wirkung des Alkohols möglich wird, aufgestaute und im nüchternen Zustand tabuisierte und verdrängte Affekte und Impulse (z.B. Aggression oder sexuelle Impulse) auszuleben. Im Sinne der Affektregulation können Suchtmittel diese “unterdrückten” Affekte zur Entfaltung bringen (“Triebabfuhr”) oder umgekehrt diese Affekte dämpfen und somit besser ertragbar machen (“Reiz-schutz”; Burian, 1994). - (3) Objektpsychologische Theorie des Rückfalls
Die objektpsychologische Rückfalltheorie bietet einen Erklärungsansatz vor allem für stark selbstdestruktive Rückfallverläufe, die häufig mit exzessivem Spirituosenkonsum und daraus entstehenden lebensbedrohlichen Zuständen sowie auch tödlichen Ausgängen verbunden sind. Nach diesem Modell sind Rückfälle Ausdruck stark autodestruktiver Tendenzen des Konsumenten und einer “fehlenden Erlaubnis zum Leben” (Rost, 1994). Es wird angenommen, dass bei diesem Personenkreis eine massive Beeinträchtigungen in der Entwicklung und daraus folgend keine ausreichende Identifikation mit dem Objekt einer nährenden, fürsorglichen, “guten Mutter” stattgefunden hat. Im exzessiven Alkoholkonsum wird sowohl das eigene Selbst wie auch indirekt die “böse Mutter” zu zerstören versucht wird. Derartige Entwicklungsdefizite sind häufig bei körperlicher und sexueller Gewalterfahrung, Ablehnung durch nahe stehende Bezugspersonen usw. zu beobachten.
- Aus einer systemischen Sichtweise werden sowohl der erstmalige Wiederkonsum von Alkohol als auch der weitere Konsumverlauf durch das Beziehungsgeflecht, in dem die abhängige Person lebt, mitbestimmt (vgl. Schmidt, 1992, 1996). Ein Beispiel für die Anwendung dieser theoretischen Annahme sind Familien, in denen sich nach Eintritt der Abstinenz eine insgesamt rigide-bedrückende zwischenmenschliche Atmosphäre ausbreitet bzw. bedrohlich wirkende Auseinandersetzungen darüber auftreten, wer “das Sagen hat” (z.B. das Geld verwaltet, die Verwandtenbesuche “bestimmt” usw.).
- Wenn die alkoholabhängige Person in dieser Beziehungsdynamik wieder Alkohol trinkt, führt dies oft dazu, dass die Beziehungspartner die aufgekeimten Konflikte zurück- und vertraute Beziehungsmuster wiederherstellen – ganz nach dem Motto “Kranke gehören geschont!” . Das erneute Trinken kann man in diesem Kontext als meist unbewussten Versuch verstehen, dem realen oder phantasierten Auseinanderbrechen der Familie gegenzusteuern.
- Der Rückfall ist somit eine beziehungsgestaltende und häufig -erhaltende Maßnahme angesichts dem Erleben von Bedrohlichkeiten im familiären System – so paradox dies auch zunächst klingen mag, wenn man an die negativen (Beziehungs-)Auswirkungen denkt, die Rückfälle häufig auch nach sich ziehen.
In unseren S.T.A.R.-Seminaren erhalten Sie eine kompakten Überblick über die gängigsten Rückfalltheorien.
Grundlagen für S.T.A.R.
Für die erfolgreiche und effektive Umsetzung des Rückfall-Präventions-Trainings S.T.A.R. bedarf es :
Ausgewählte Kompetenzen der Gruppenleitung
Zur kompetenten und erfolgreichen Durchführung des S.T.A.R.- Programms bedarf es ausgewählter Basiskompetenzen der Gruppenleitung:
Zur gezielten Einarbeitung in das S.T.A.R.-Programm empfehlen wir Fachkräften die Teilnahme an einem S.T.A.R.-Seminar oder einer S.T.A.R.-Teamschulung.
Fachliches Wissen
- Die Anwendung von S.T.A.R. setzt Kenntnisse und Fertigkeiten im Erkennen und Behandeln alkoholbezogener Beeinträchtigungen voraus.
- S.T.A.R.-Gruppenleiter sollten mit grundlegenden wissenschaftlichen Erkenntnissen über Rückfälligkeit (z.B. Haufigkeit, Hintergründe, Verläufe) vertraut sein.
- Kenntnisse des sozial-kognitiven Rückfallmodells von Marlatt (1985, 1996) sowie ergänzend psychoanalytischer (Rost, 1999; Wohlfarth, 1992) und systemischer (Schmidt, 1992) Modellvorstellungen sind ebenfalls von Vorteil.
In unseren S.T.A.R.-Seminaren erhalten Sie eine kompakte Einführung in den aktuellen Stand der deutschen und internationalen Rückfallforschung.
Reflektiertes Menschenbild
- Als Suchtfachkraft besitzt man bestimmte Vorstellungen darüber, was alkoholabhängige Menschen von anderen unterscheidet (z.B. unzureichende Streßbewältigungsfertigkeiten, Ich-Struktur-Schwäche etc.) und was sie nach einer Abstinenzphase zum erneuten Alkoholkonsum führt (z.B. fehlende Abgrenzungsfertigkeiten, biologisch determiniertes Alkoholverlangen etc.).
- Derartige Grundannahmen prägen sowohl die Haltung, mit der man Klienten gegenübertritt, als auch die Interventionen, die man zur Veränderung der Alkoholprobleme für hilfreich erachtet.
- Sinnvoll erscheint uns, wenn sich die eigene Grundhaltung zu Sucht und Rückfall, mit der man als Leitung eine S.T.A.R.-Gruppe beginnt, mit den nachfolgend formulierten Sichtweisen deckt, zumindest aber nicht in Widerspruch dazu steht.
- Im S.T.A.R. gehen wir von folgenden Annahmen über Menschen, die problematischen Alkoholkonsum betreiben, aus ("beschreibendes" bzw. "deskriptives Menschenbild"):
- a) Persönliche "Verwundbarkeiten" (z.B. hohe Kränkbarkeit) und unzureichende persönliche Bewältigungsfertigkeiten bilden in Kombination mit überfordernden Lebenssituationen oder schwierigen Beziehungskontexten den Nährboden für die Entwicklung und Aufrechterhaltung überhöhten Substanzkonsums und das Auftreten von Rückfällen.
- b) Sucht und Rückfall stellen sinnhafte, wenngleich oftmals destruktive Formen eigener Lebensbewältigung dar. Einerseits "hat die abhängige Person etwas von ihrer Sucht bzw. Rückfälligkeit" (z.B. Abschwächung von Ängsten, Gefühl der sozialen Zugehörigkeit usw.), andererseits hat sie deren negative Folgen zu tragen (z.B. körperliche Schädigungen und soziale Konflikte).
- Dementsprechend sind Menschen mit Alkoholproblemen einer Veränderung ihres Alkoholkonsums gegenüber in der Regel ambivalent.
- Rückfälle stellen Chancen für ein besseres Verstehen der Bedingungen der eigenen Suchtmittelabhängigkeit und Anknüpfungspunkte für die persönliche Weiterentwicklung - nämlich Überwindung der Sucht - dar.
- Rückfälle sind Bestandteil des "Herauswachsens" aus der Suchtmittelabhängigkeit. Der Ausstieg aus der Bindung an das Suchtmittel erfordert dementsprechend Zeit.
- In das S.T.A.R. geht darüber hinaus die folgende ethische Grundhaltung ein ("normatives Menschenbild"):
- Die Autonomie (bzw. "Unverfügbarkeit") jedes Menschen sollte respektiert bzw. "wo eingeschränkt" gefördert werden (vgl. Scharrer, 1995; u.a.). Es obliegt demnach letztlich der Autonomie des Klienten, über seinen Umgang mit Alkohol und das "Tempo" bei der Veränderung seines Alkoholkonsums zu entscheiden.
- Die Aufgabe des Suchthilfemitarbeiters liegt darin, vorliegende Einschränkungen der Entscheidungsfreiheit ("innere Autonomie"; Tugendhat, 1987) aufheben zu helfen. Die "innere Autonomie" betrifft sowohl die Fähigkeit, sich über eigenes Verhalten und Wünsche klar werden und neue Handlungsmöglichkeiten in Erwägung ziehen zu können (wissen, was man will) als auch die Fähigkeit, das Gewünschte in die Tat umsetzen zu können ("Könnenskraft").
- Klienten sollte auf respektvolle, wertschätzende und unterstützende statt aggressiv-konfrontative Weise begegnet werden.
In unseren S.T.A.R.- Seminaren haben Sie Gelegenheit, Ihre Haltung zu Sucht und Rückfall zu reflektieren und im Austausch mit anderen den eigenen Standort zu bestimmen.
Methodische Kompetenz
- Von Vorteil sind Kompetenzen in "Motivierender Gesprächsführung" ("Motivational Interviewing"; Miller & Rollnick, 1991, 2002), da Grundüberlegungen und Interventionsmethoden dieses Ansatzes (z.B. aktives Zuhören, "geschmeidiger" Umgang mit Widerstand usw.) in die Durchführung des S.T.A.R. einfließen.
- Die Durchführung des S.T.A.R. ist an die Kompetenz gebunden, eine inhalts- bzw. themenzentrierte Gruppe wie die das S.T.A.R. leiten zu können.
- Diese Fähigkeit beinhaltet nach Cohn (1967), dass der Gruppenleiter drei Aspekte zu berücksichtigen und "auszubalancieren" versteht:
- a) die S.T.A.R.-Inhalte (den "Lernstoff")
- b) den Lern- bzw. therapeutischen Prozess jedes einzelnen Teilnehmers
- c) die "Chemie der Gruppe" (Atmosphäre, Zusammenhalt usw.).
In unseren Seminaren werden mit Sie neuen Interventionsformen (z.B. Motivational Interviewing) vertraut gemacht und haben die Möglichkeit den Umgang schwierigen Gruppen- und Gesprächssituationen (z.B. Widerstand) zu üben.
Institutionelle Rahmenbedingungen
Rückfallprävention ist mehr als nur ein Training.
Wesentlich ist das Gesamtkonzept einer Einrichtung im Umgang mit der Rückfallthematik. – Also die gelebte und für KlientInnen tagtäglich erfahrbare Rückfallarbeit.
Dies beinhaltet:
- Einsatz wissenschaftlich fundierter Rückfallpäventionstrainings (z.B. S.T.A.R.)
- Professioneller Umgang mit Rückfällen während der Behandlung (vgl. Konzepte stationärer Rückfallarbeit)
- Rückfallarbeit mit Angehörigen
- Abstimmung des Rückfallkonzepts mit Beratungsstellen, Selbsthilfegruppen und anderen Nachsorgestellen
- Qualitätssicherung durch Mitarbeiterschulung, Supervision und Coaching
Unser Seminar “Konzepte stationärer Rückfallarbeit” bietet eine gute Grundlage, ein professionell gestaltetes Gesamtrückfallkonzept zu installieren.